Anthroposophie hineingießen
Auch wer noch so eifrig Anthroposophisches liest, der sollte ein
freudiges, gehobenes Gefühl haben können, in eine Zusammenkunft
von Anthroposophen zu gehen, weil er sich auf die Menschen freut, die
er da findet. Er sollte sich auch dann freuen können, wenn er voraussetzen muß,
daß er nichts anderes hört, als was er längst schon in sich
aufgenommen hat.
Findet man in einer anthroposophischen Gruppe ein neu eingetretenes Mitglied,
so sollte man es als altes Mitglied nicht bei «der Befriedigung bewenden lassen, daß die Anthroposophie wieder einen neuen
«Anhänger» gewonnen habe. Man sollte nicht bloß den Gedanken
haben: jetzt ist wieder einer da, in den man Anthroposophie hineingießen kann;
sondern man sollte eine Empfindung für das Menschliche
haben, das mit dem neuen Mitgliede in die anthroposophische Gruppe
hereinkommt.
In der Anthroposophie kommt es auf die Wahrheiten an, die durch
sie offenbar werden können; in der Anthroposophischen Gesellschaft
kommt es auf das Leben an, das in ihr gepflegt wird.
Es wäre von größtem Übel, wenn in berechtigter Art die Meinung
aufkommen könnte: Anthroposophie mag noch so wertvoll sein, wenn
ich aber Menschen näherkommen will, dann gehe ich lieber anderswo hin, als wo Anthroposophen in Selbstzufriedenheit fanatisch mir
nur ihre theoretischen Gedanken an den Kopf werfen wollen und sagen:
wenn du nicht denkst wie ich, so bist du höchstens ein halber Mensch.
Viel aber kann zum berechtigten Aufkommen einer solchen Meinung
beitragen: auf der einen Seite das kalte, nüchterne Belehren wollen, in
das man leicht verfällt, wenn man die Wahrheit der Anthroposophie
eingesehen hat. Auf der andern Seite aber steht das Esoterik-Spielen,
das manchen neu Eintretenden so stark abstößt, wenn er an die anthroposophischen Zusammenkünfte herantritt. Ein solcher findet Menschen,
die geheimnisvoll damit tun, daß sie vieles wissen, was man denen, die
«dazu noch nicht reif sind, nicht sagen kann». Aber über der ganzen
Rederei schwebt etwas Spielerisches. Esoterisches verträgt eben nur
Lebensernst, nicht die eitle Befriedigung, die man an dem Beschwätzen
hoher Wahrheiten haben kann. Deshalb muß noch lange nicht die
Sentimentalität, die sich vor der Freude und der Begeisterung fürchtet,
das Lebenselement im Zusammenleben der Anthroposophen sein. Aber
das spielerische Sich-Zurückziehen vor dem «profanen Leben», um
«wahre Esoterik» zu treiben, das verträgt die Anthroposophische Gesellschaft nicht. Das Leben enthält an allen Orten viel mehr Esoterisches,
als sich oft diejenigen träumen lassen, die da sagen: da oder dort kann
man nicht Esoterik treiben; man muß das in diesem oder jenem abgesonderten Zirkel tun. Gewiß sind solche Zirkel oft notwendig. Aber sie können spielerisches Wesen nicht vertragen.
GA 260a - Seite 45
GA 260a - Seite 45