Christus & Auferstehung
So wie diejenigen, die Zeitgenossen des Mysteriums
von Golgatha waren, Jahrhunderte danach zum vollen Verständnisse
kamen des Mysteriums von Golgatha, so erleben wir eine
Art von Spiegelbild, bevor wir geboren werden, und zwar Jahrhunderte,
bevor wir geboren werden. Das gilt aber nur für die heutigen
Menschen. Die heutigen Menschen tragen alle, indem sie hereingeboren
werden in die physische Welt, etwas mit, was wie ein Abglanz
ist des Mysteriums von Golgatha, wie ein Spiegelbild desjenigen,
was man Jahrhunderte nach dem Mysterium von Golgatha in der
geistigen Welt erlebte.
Nun, diesen Impuls kann natürlich derjenige, der nicht übersinnlich
schauen kann, nicht unmittelbar schauen, aber alle können
die Wirkung dieses Impulses in sich erleben. Und wenn sie ihn erleben,
dann finden sie die Antwort auf die Frage: Wie finde ich den
Christus?
Dazu ist folgendes Erleben notwendig. Man findet den Christus,
wenn man folgende Erlebnisse hat. Erstens das Erlebnis, daß man
sich sagt: Ich will so weit Selbsterkenntnis anstreben, als es mir
möglich ist, nach meiner ganz individuellen menschlichen Persönlichkeit
möglich ist. - Keiner, der ehrlich diese Selbsterkenntnis anstrebt,
wird sich anderes heute als Mensch sagen können als: Ich
kann das nicht fassen, was ich eigentlich anstrebe. Ich bleibe mit
meiner Fassungskraft hinter dem, was ich anstrebe, zurück; ich
empfinde meine Ohnmacht gegenüber meinem Streben. - Es ist dieses
Erleben ein sehr wichtiges. Dieses Erleben müßte jeder haben,
der ehrlich mit sich selbst, in Selbsterkenntnis zu Rate geht: ein ge-
wisses Ohnmachtsgefühl. Dieses Ohnmachtsgefühl ist gesund, denn
dieses Ohnmachtsgefühl ist nichts anderes, als das Empfinden der
Krankheit, und man ist ja erst recht krank, wenn man eine Krankheit
hat und sie nicht fühlt. Indem man die Ohnmacht empfindet,
sich zum Göttlichen zu erheben in irgendeinem Zeitpunkte seines
Lebens, fühlt man in sich jene Krankheit, von der ich gesprochen
habe, die uns eingepflanzt ist. Und indem man diese Krankheit empfindet,
empfindet man, daß die Seele durch unseren Leib eigentlich,
so wie der Leib heute ist, verurteilt wäre mitzusterben.
Dann, wenn
man genügend kräftig diese Ohnmacht empfindet, dann kommt der
Umschlag. Dann kommt das andere Erlebnis, das uns sagt: Aber wir
können, wenn wir uns nicht an dasjenige hingeben, was zu erreichen
wir durch unsere Leibeskräfte allein imstande sind, wir können,
wenn wir uns hingeben an dasjenige, was uns der Geist gibt,
überwinden diesen innerlichen Seelentod. Wir können die Möglichkeit
haben, unsere Seele wiederzufinden und an den Geist anzuknüpfen.
Wir können erleben die Nichtigkeit des Daseins auf der einen
Seite und die Verherrlichung des Daseins aus uns selber, wenn
wir hinüberkommen über das Spüren der Ohnmacht. Wir können
die Krankheit spüren in unserer Ohnmacht, wir können [aber auch]
den Heiland, die heilende Kraft spüren, wenn wir die Ohnmacht
[erlebt haben], dem Tode verwandt geworden sind in unserer Seele.
Indem wir den Heiland spüren, fühlen wir, daß wir etwas in unserer
Seele tragen, das aus dem Tode jederzeit auferstehen kann im
eigenen inneren Erleben. - Wenn wir diese zwei Erlebnisse suchen,
finden wir in unserer eigenen Seele den Christus.
Das ist ein Erlebnis, dem die Menschheit entgegengeht. Angelus
Silesius sagte es, als er die bedeutungsvollen Worte sprach:
Das Kreuz von Golgatha kann dich nicht von dem Bösen,Es kann im Menschen aufgerichtet werden, indem er die zwei Pole fühlt: die Ohnmacht durch sein Leibliches, die Auferstehung durch sein Geistiges.
Wo es nicht auch in dir wird aufgericht't, erlösen.
Der Tod als Lebenswandlung
GA 182 - Seite180f