ESOTERISCHE STUNDE
München, 1. September 1912 (Aufzeichnung A)
Der Esoteriker hat auf manches zu achten, was für den Exoteriker ganz belanglos ist. So muß er sich immer vor Augen halten daß, wenn er nach Wahrheit strebt, es immer nur eine relative Wahrheit sein kann, daß man als Esoteriker von ewigen Wahrheiten überhaupt nicht sprechen kann. In unser Streben mischen sich auch immer unsere Wünsche, und wir müssen uns sagen, daß wir immer lieber eine Wahrheit annehmen, die uns gefällt, als eine solche, die uns unsympathisch ist. Zum Beispiel der Gedanke der Unsterblichkeit ist als solcher den meisten Menschen zusagender als der, daß mit dem Tode alles aus ist, und sie sind deshalb geneigt, lediglich aus diesem Grunde ihn als Wahrheit anzunehmen. Das soll der Esoteriker aber nicht. Er soll seine Wünsche, sein Persönliches ausschalten und dann forschen. Hierfür sind uns unsere Meditationen gegeben, in denen wir sozusagen geistig ruhen sollen auf einem bestimmten Gedankeninhalt. Es kommt dabei nicht so sehr darauf an, daß wir den Inhalt der Meditation durchdenken, als daß wir unsere Seele darin ruhen lassen; denn durch diese fortwährende Wiederholung werdenunsere Seelenkräfte gestärkt.
Die Neigung, an absolute, ewige Wahrheiten zu glauben und
sie zu verfechten, ist eine Eigenschaft unserer Bewußtseinsseele.
Es! ist nun möglich, daß die Bewußtseinsseele so die Oberhand
gewinnt, daß sie diese Ideen nicht mehr beherrscht, sondern von
ihnen beherrscht wird und sie nach außen ergießt. Im Okkultismus
hat man dafür einen Ausdruck; man nennt eine solche Bewußtseinsseele
mit diesen Ideen den «inneren Sadduzäer». Wir
tragen alle den inneren Sadduzäer in uns, und der Esoteriker hat
die Pflicht, dies zu erfühlen und sich danach zu richten. (Beispiel:
Als Goethe p. m. [post mortem] gefragt wurde, wie man
seine Werke interpretieren solle, sagte er: «Aus meinem Geiste
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heraus, aber nicht mit meinen selben Worten, die ich sprach,
mich erklären.» - Saint-Martin p. m. sagte einmal: «Ich habe
viele Schüler; sie haben aber meist meine Irrtümer weiterverbreitet.
»)
Auch die Verstandes- oder Gemütsseele kann in sich etwas
wie einen zweiten Menschen tragen, und zwar, wenn der
Mensch eine persönlich erkannte Wahrheit als allgemeingültig
hinstellen will. Der Mensch tut dies aus einem gewissen Schamgefühl
heraus, weil er nicht sagen will: «Diese Wahrheit habe
ich als solche durch dies oder jenes Erlebnis erkannt; es ist
daher für mich eine Wahrheit», sondern er möchte sie als allgemeingültig
hinstellen. Hierfür hat der Okkultismus die Bezeichnung
«Pharisäer». Der innere Pharisäer ist die Verstandesseele,
die die Herrschaft nach dieser Richtung an sich reißt.
Aus dieser Sucht, persönliche Wahrheiten als allgemeine hinzustellen,
resultiert dann oft nach außen hin Heuchelei und
Unaufrichtigkeit.
Die Empfindungsseele kann man in seinem Streben nach
Wahrheit ebenfalls zu sehr vorherrschen lassen. Das tun alle die,
welche lieber in Gefühlen schwelgen, als zum Beispiel die Weltentwicklungslehren
in sich aufzunehmen und verarbeiten zu
wollen, die zum Beispiel lieber sich in einen Tauler oder einen
anderen Mystiker des Mittelalters vertiefen und alles übrige ablehnen.
Da die Empfindungsseele von der Bewußtseinsseele
ziemlich entfernt ist, so bringt sie ihre Fehler nicht in so unangenehmer
Weise zum Ausdruck wie diese, aber doch ist es ein
Fehler, wenn der Esoteriker sich von allem, was ihn die äußere
Welt lehren kann, abwendet, um nur in der inneren Versenkung
die Wahrheit zu suchen. Man nennt im Okkultismus diese Art,
die Empfindungsseele überwiegen zu lassen, den «inneren Essäer
». Man kann nun die Einwendung machen: «Ja, ein Essäer ist
doch etwas sehr Gutes.» Gewiß ist er das; aber die geistigen
Führer, welche diesen Orden gründeten, wußten eben, an welchem
Orte, zu welcher Zeit und in welcher Art sie ihn einrichten
mußten, damit er für die Welt etwas Heilsames war. Das ist
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eben die Hauptsache im okkulten Streben, zu erkennen, welche
Wahrheit die richtige für die betreffende Zeit ist. Das hat der
Buddha damals genau gewußt, als er sechshundert Jahre vor
Christus seine Lehre nach Indien brachte. Dieselbe Lehre an
einen anderen Ort verpflanzt, zu anderer Zeit, hat nicht die
gleiche Wirkung. Wie etwas wirksam zu machen ist, darauf
kommt es an.
Es formen sich Knotenpunkte zu gewissen Zeiten in den geistigen
Welten, wo aus den höchsten Welten in die direkt über
uns liegenden Welten Kräfte hineinwirken. Eine solche Zeit ist
jetzt da, und diese Kräfte aus den höchsten Welten herabholen,
können nicht die großen Initiierten, das kann nur der Christus,
dadurch, daß er das Mysterium von Golgatha durchgemacht hat.
Aber die großen Initiierten Buddha, Pythagoras, Zarathustra
und so weiter gruppieren sich um den Christus und lassen sich
von seinen Kräften beeinflussen, gleichviel, ob sie im physischen
Leib inkarniert sind oder in geistigen Welten weilen, und sie
wirken aus diesem Geiste heraus.
Wir sollen nun diese drei in uns wohnenden Menschen, den
Sadduzäer, den Pharisäer und den Essäer, untereinander in ein
Verhältnis bringen, denn jeder allein für sich ist etwas Schädliches.
Der Pharisäer soll dem Sadduzäer dienen und diese beiden
zusammen dem Essäer. Dieser soll über die zwei herrschen,
aber allein für sich darf er nicht herrschen. Wir sollen als Esoteriker
es wirklich ins Gefühl bekommen, daß wir diese drei in
uns haben, denn wenn wir an den Hüter der Schwelle kommen,
werden wir sie sehr deutlich spüren; denn wir werden sie zurücklassen
müssen als etwas Vergängliches, was nicht in die geistigen
Welten gehört. Wenn man sagt, ein Essäer beschäftige
sich ja gerade mit den geistigen Welten, so muß geantwortet
werden, daß er sich mit ihnen in seiner ihm angemessenen Art
in der physischen Welt beschäftigt, aber daß eben sein ganzer
Orden für die physische Welt und für einen bestimmten Punkt
der Erde gegründet wurde und daß in den geistigen Welten von
anderen Gesichtspunkten ausgegangen wird.
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Wenn wir mit diesen drei Mängeln, die wir als Blößen empfinden,
vor die Gottheit hintreten, so werden wir ein Gefühl der
Scham haben, wie es Adam und Eva in ihrer Blöße vor der
Gottheit hatten, und deshalb müssen wir trachten, diese drei
Seeleneigenschaften in das richtige Gleichgewicht zu bringen.
Die geistige Welt ist für uns von Hüllen umgeben, die wir
selber schaffen und die wir lösen müssen. Aber nicht durch Suchen
in sich findet man die Erkenntnis. Sie kann einem kommen,
wenn beim ruhigen Meer die Sonne in dieses sinkt und wir
diese Naturerscheinung intensiv auf uns wirken lassen. Das richtige
Leben mit der Natur wirkt erweckend und fördernd auf
den Esoteriker; aber er darf ihm auch nicht ausschließlich sich
hingeben.